Medical Training

Trainieren statt narkotisieren ...

In modernen Zoos wird nicht mehr geschossen, wenn der Arzt kommt - statt das gestresste Tier mit dem Betäubungsgewehr zu narkotisieren, wird zunehmend auf Medizinisches Training gesetzt. Eine Methode der medizinischen Versorgung und Pflege mit zahlreichen Vorteilen für Tier und Mensch. Die Kognitive Verhaltensbiologin und Wildtiertrainerin Andrea Campa hat sie im Zoo Zürich eingeführt. Und plädiert dafür, mit dieser Art des Handlings auch unseren Heim- und Nutztieren das Leben zu erleichtern.

So entspannt nicht nur eine Narkose ... (Foto: Pixabay)
So entspannt nicht nur eine Narkose ... (Foto: Pixabay)

Die Seehund-Dame hatte schon seit längerem ein kleines, aber immer wiederkehrendes und langsam wachsendes Gebilde auf der rechten Gesichtshälfte. Es konnte während des Beschäftigungs- und Showtrainings zwar aus der Nähe begutachtet werden. Den Versuch einer intensiveren Untersuchung quittierte sie aber stets mit einem schnellen Rückzug ins Wasser. Dort blieb sie, selbst die leckerste Makrele vermochte sie nicht in die Nähe des Ufers zu locken. Auch nach Jahren in diesem Gehege hatte sich bei den Seehunden noch keine Gewöhnung an menschliche Nähe und Pflege bemerkbar gemacht: alle Tiere in der Gruppe zogen sich nach typischer Seehundart ins Wasser zurück, wenn sich abzeichnete, dass eine körperliche Untersuchung anstand. Nach einem erneuten Versuch standen wir - die Pfleger und die Tierärztin - nun also leicht konsterniert am Beckenrand und schauten auf den aus dem Wasser ragenden Kopf des Seehundes. „Irgendwie müssen wir es schaffen, die Schwellung zu untersuchen", meinte die Tierärztin, "so lassen können wir es nicht mehr.“ Jemand fragte zögernd „Narkosegewehr?“ Für den leitenden Pfleger keine Option: "Das wurde schon einmal versucht. Die Tiere schlafen nicht schnell genug und können sich immer noch ins Wasser zurückziehen, und das bedeutet, dass wir dann über 100’000l Wasser ablassen müssen, um an unseren Patienten heranzukommen“. "Ausserdem vertragen Meeressäuger eine Narkose aufgrund ihrer Atmungsphysiologie sehr schlecht", ergänzte die Tierärztin. Und nach einer kurzen Pause: „Wir müssen sie aber unbedingt röntgen können“.

 

Schliesslich kamen alle überein, dass nichts anderes übrig blieb, als ein intensives Medizinisches Training mit dem Ziel durchzuführen, dass der Seehund sich freiwillig röntgen liess. Das bedeutete: Die Seehündin sollte sich von den ganzen Kabeln und Apparaten, den vielen Personen mit der komischen Schutzkleidung in nächster Nähe nicht beirren lassen, während sie eine längere Zeitspanne völlig regungslos auf einer Röntgenplatte liegt. Wir bekamen drei Monate Zeit, dieses Ziel zu erreichen. Und wir haben es dank medizinischem Training - oder "Medical Training" - geschafft!

Das Ergebnis von drei Monaten intensivem Medical Training: Queen hielt für die Dauer der Röntgenaufnahme an Land ruhig still

Medizinisches Training ist das gezielte, präventive Vorbereiten eines Tieres auf gängige medizinische und pflegende Eingriffe. Wesentlich ist dabei die freiwillige Teilnahme der Tiere. Dies wird über eine positiv verstärkende Vorgehensweise erreicht und beinhaltet gezieltes Konditionieren sowie den Aufbau diverser Übungen vor dem Eintreten des Ernstfalles. Es kommt nicht nur zum Einsatz bei Tieren die sich uns entziehen können, sondern zunehmend auch bei Tieren die wir eigentlich auch packen und festhalten könnten.

Genevieve Desportes aus Dänemark hat das Vorkommen von Stresshormonen bei Hunden gemessen, die alle der selben Behandlung unterzogen wurden – die einen mit, die anderen ohne vorhergehendes Medical Training. Es zeigte sich, dass das Stressniveau bei den Hunden ohne Vorbereitung signifikant erhöht war. Und zwar selbst dann, wenn sie dem Augenschein nach an die Behandlung gewöhnt waren. Nicht wesentlich erhöht war hingegen der Stresshormon-Pegel bei Hunden, die im Medical Training die freiwillige Teilnahme an der Behandlung kennengelernt hatten. (Vermutlich handelte es sich bei der "augenscheinlichen Gewöhnung" an die Behandlung um ein "Freeze" oder sogar bereits um eine erlernte Hilflosigkeit.)

Hand aufs Herz: Wie oft denken wir nicht daran, den Tierarztbesuch vorzubereiten oder Behandlungen zu trainieren, weil „es geht dann schon“. Ja, oft geht es dann schon, aber zu welchem Preis für unseren Begleiter? Ganz zu schweigen von den Fällen und Hunden, bei denen es eben NICHT geht.  Sei es, wegen einer massiven Problematik mit Fremdpersonen oder schmerzhaften Erfahrungen, die das Tier beim Arztbesuch bereits machen musste. Dabei braucht es bei unbelasteten Tieren nur ein wenig Vorbereitung, damit eine Behandlung oder ein Besuch beim Tierarzt mit massiv weniger Stress und erhöhter Sicherheit verbunden ist – für Mensch und Hund.

In aller Ruhe Blut abnehmen  können - für beide Seiten ein Vorteil.
In aller Ruhe Blut abnehmen können - für beide Seiten ein Vorteil.

Worin aber besteht diese Vorbereitung bei jungen oder noch nicht durch negative Erfahrungen belasteten Tieren? In einer sorgfältigen Gewöhnung während den wichtigen Prägungsphasen. Zum Beispiel in Form von Besuchen in der TA-Praxis, ohne dass etwas passiert –  man setzt sich vielleicht nur ins Wartezimmer – damit sich der Hund an die Gerüche und den Ort gewöhnen kann. Zu Hause oder in der Welpenspielstunde kann unser Hund behutsam wie spielerisch daran gewöhnt werden, dass er an verschiedenen Stellen berührt wird, auch von Drittpersonen. Ein frühes Verknüpfen mit einem Signal wie beispielsweise „Zeige“ oder „Halte still“ stellt einen wichtigen Baustein in einer vertrauten und vertrauensvollen Kooperation dar. Auch und gerade bei unter Umständen schwierigeren Behandlungen, die etwa ein längeres Stillhalten erfordern (Ultraschall) oder eine gewisse Empfindungstoleranz (Blutentnahme bei gleichzeitigen Schmerzen).

 

Medizinisches Training geht aber noch viel weiter. Der Aufbau von einem guten, angenehmen Bodentarget (eine weiche Matte etwa), sowie eines Nasen- und andere Körpertargets sind wichtige Bausteine für viele weitere Übungen.  Ein Target (aus dem Englischen für „Ziel“) ist ein Objekt wie z.B. ein Stab, Ball oder eine Matte, die das Tier aktiv aufzusuchen und zu berühren lernt. Auch das regelmässige Trainieren des "Stillhalten-Spiels“ ist sehr wichtig. Diese Übung stellt dem Tier verschiedene Fragen wie: „Kannst du mit der Nase am Target bleiben und stillhalten, während ich dich am Fuss oder im Nacken berühre? Auch während ich dich leicht in den Oberschenkel piekse?" Kleinschrittiges Abfragen und Wiederholen geben dem Tier die Möglichkeit, die Entwicklung der Situation mitzubestimmen - entweder, indem es die Frage mit einem Loslassen des Targets "verneint". Oder es "bejaht" mit dem Verbleiben am Target, dass ein Weitermachen okay ist – und erhält dafür eine Belohnung. Diese Art des Vorgehens gibt dem Hund bei den Behandlungen eine Art Mitspracherecht und führt bei Wildtieren zu den beeindruckenden Videos von Blutentnahmen, die sie völlig stressfrei und ohne Sedation durchführen lassen.

 

Die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme - auch "choice and control" - ist der Schlüssel zu einem reibungslosen, ruhigen und für alle Beteiligten weitgehend entspannten Ablauf einer Behandlung. Wie nachhaltig und tiefgreifend die positive Wirkung eines auf der Erfahrung der Freiwilligkeit basierenden, medizinischen Trainings ist, zeigt sich, wenn es dem Tier nicht gut geht: auch bei Appetitlosigkeit oder Schmerzen sind die Übungen noch abrufbar. Aus eigener Erfahrung und der von Trainerkolleginnen und -kollegen weiss ich, dass die Tiere die Behandlung nicht nur über sich ergehen lassen, wenn sie sich nicht gut fühlen, sondern bei Bedarf regelrecht nach einer Behandlung „fragen“.

 

So auch Hector, der Blutbrustpavian, der gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männchen in den Zoo zog. Im Gegensatz zu seinen Kollegen kam Hector überhaupt nicht mit der neuen sozialen Situation klar und zeigte massive Stereotypien, verletzte sich sogar massiv selber. Nachdem wir zunächst nichts gefunden hatten, was gegen dieses selbstschädigende Verhalten geholfen hätte, entschieden wir, ein einfaches, belohnungsbasiertes Training mit Target und Clicker durchzuführen. Jeden Morgen bot ich Hector während rund zehn Minuten an mitzumachen. Und er konnte entscheiden, ob er teilnehmen wollte. Nachdem er das Spiel verstanden hatte und mitmachte, liessen seine Stereotypien nach und seine sozialen Interaktionen nahmen zu. Nach ein paar Monaten zeigte Hector so gut wie keine Auffälligkeiten mehr und wollte auch nicht mehr am Training teilnehmen. Im darauffolgenden Winter veränderte sich die soziale Situation in der Gruppe jedoch wieder, worauf Hector erneut mit seinen Stereotypien reagierte. Ich bot ihm nach monatelanger Pause zum erstenMal wieder das Training an – und er stürzte sich geradezu darauf. Die Verhaltensauffälligkeiten liessen wieder nach. Danach schien Hector das Training nicht noch einmal zu benötigen, jedenfalls hat er es nicht mehr in Anspruch genommen. Eine kürzlich erschienene Studie zeigt übrigens auf beeindruckende Weise, dass auch Pferde gerne die Möglichkeit nutzen, sich mitzuteilen. Beispielsweise darüber, ob sie auf ihrem Rücken eine Decke möchten oder wollen, dass sie entfernt wird.

 

Impftraining mit Target: Der Hund hat jeder Zeit die Möglichkeit, die Behandlung zu unterbrechen
Impftraining mit Target: Der Hund hat jeder Zeit die Möglichkeit, die Behandlung zu unterbrechen

Die Möglichkeit mitzuentscheiden, was man tun möchte und ab wann z.B. eine Behandlung zu viel wird, spielt für das erfolgreiche Training sowie die tiergerechte Haltung und Pflege diverser (Wild)Tierarten eine zunehmend wichtige Rolle. Zu den spannenden Beobachtungen zählt, dass allein die Möglichkeit, sich einer unangenehmen Situation entziehen zu können reicht, um Stress zu reduzieren. Vielleicht noch erstaunlicher: Diese Möglichkeit wird nur selten auch in Anspruch genommen. Ein Tier, das verstanden hat, dass es über eine Wahlmöglichkeit verfügt, ist oftmals bereit, einiges mitzumachen - in dem Bewusstsein, dem Geschehen nicht ausgeliefert zu sein (Owen et al 2005; Ross, 2006; Anderson et al, 2002). Einem Tier die Gewissheit zu geben, dass es die Kontrolle über die Situation behält, ist der springende Punkt gerade bei Tieren, die bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben. Sie können auf diesem Weg die Zusammenarbeit mit dem Menschen neu erlernen.

Mit Bodentarget und der Möglichkeit von "choice and control" können Pflege und Training als Handlungsdialog individuell gestaltet werden.

Und dann gibt es aber auch Tiere, die aus verschiedenen Gründen eine potentielle Gefahr für einen Menschen darstellen – sei das ein Tiger oder Elefant im Zoo oder ein Hund mit ausgeprägter Fremdpersonenproblematik. Da bietet sich ein Training im geschützten Kontakt an. Tier und Mensch sind durch eine Wand oder ein Gitter voneinander getrennt, das Tier kann sich jeder Zeit zurückziehen, und der Mensch ist vor Angriffen geschützt. Die Arbeit im geschützten Kontakt ist vor allem in der Elefantenpflege weit verbreitet und beinhaltet den Aufbau von diversen Targets. Zentral dabei ist die gleichzeitige Anwendung von Hüft- und Nasentarget, die eine seitliche Positionierung des Tieres an Trennwand oder -gitter zum Ziel hat. In dieser Position kann z.B. eine Sedationsspritze gesetzt oder ein Ultraschall durchgeführt werden. Aber auch bei vielen weiteren Tierarten - wild oder domestiziert - werden im Zoo heute Targets und geschützter Kontakt im Medizinischen Training eingesetzt. Beispielsweise für die Blutentnahme bei Wang Wang, einem Grossen Panda im Zoo South Australia, bei dem der Stand der Geschlechtsreife ermittelt werden soll.

Wichtig bei allen Übungen ist das Bewusstsein, dass in sehr kleinen Schritten gearbeitet werden muss – nach dem sogenannten Microshaping-Prinzip – , damit das Tier eine sehr grosse Erfolgschance hat. Konkret heisst das: die Trainingsschritte sind so klein sein zu wählen, dass dem Tier acht oder sogar neun von zehn Übungsdurchgängen flüssig gelingen. Des weiteren wird möglichst nach dem Kreislaufprinzip trainiert, um das sogenannte „Verhaltensmomentum“ zu nutzen.

Noch eine Bemerkung zur Sicherheit: Der Maulkorb ist für das sichere Handling des Hundes ein unverzichtbares Hilfsmittel, das einen sogenannten halb-geschützen Kontakt ermöglicht. Mittlerweile gibt es verschiedene Ansätze, den Maulkorb positiv und spielerisch aufzutrainieren. Ein gut auftrainierter Maulkorb hat den grossen Vorteil, dass alle beteiligten Menschen entspannt sind, was sich wiederum auf das Tier überträgt - eine win-win-Situation. Das folgende Video mit Lisa zeigt ein Beispiel von einem spielerischen und proaktiven Maulkorbaufbau.

Natürlich war das Röntgen-Training mit Seehunddame Queen nicht das einzige, bei dem wir im Zoo die beschriebenen Ansätze und Tools erfolgreich eingesetzt haben. Denn wie, bitte schön, bewegt ein Tierpfleger eine circa 200kg schwere Galapagos Riesenschildkröte SUVA-konform für die regelmässige Gewichtskontrolle auf eine Waage? Mit einem gut konditionierten Target natürlich! Wie rufen wir 17 frei fliegende Eurasische Bienenfresser in der Masoala Halle zuverlässig ab, um ihnen ein wichtiges Vitaminpräparat zu verabreichen? Mit einem gut aufgebauten und regelmässig durchgeführten Rückruf-Training. Und wie können die Tierpflegerinnen und Tierpfleger die temperamentvollen philippinischen Süsswasser-Krokodile zur sicheren Fütterung oder tiergerechten Untersuchung aus der Nähe an einen Ort "binden"? Mit einem „hold“-Signal natürlich. Mittlerweile sind die Ansätze des Medizinischen Trainings in den meisten Zoos für viele Behandlungen und Eingriffe angekommen – zum Wohl von Tier und Mensch (Brando, 2010). Sorgen wir doch dafür, dass auch unsere Nutz- und Heimtiere von ihnen profitieren.

 



  • Owen, M.A., Swaisgood, R.R., Czekala, N.M. & Lindburg, D.G. (2005).
  • Enclosure choice and well-being in giant pandas: Is it all about control?. Zoo Biology, 24(5), 475–481.
  • Ross, S.R. (2006). Issues of choice and control in the behaviour of a pair of captive polar bears. Behavioural Processes, 73(1), 117–120.
  • Anderson, U.S., Benne, M., Bloomsmith, M.A. & Maple, T.L. (2002). Retreat space and human visitor density moderate undesirable behavior in petting zoo animals. Journal of Applied Animal Welfare Science, 5(2), 125–137.
  •  Brando, S. (2010) Advances in Husbandry Training in Marine Mammals Care Programs. Journal of Comparative Psychology 23, 777-791

Andrea Campa ist Kognitive Verhaltensbiologin und absolviert aktuell den Master in Verhaltensmedizin. Die praktische Arbeit mit Tieren aller Art ist ihre Passion. Sie hat als Pferdepflegerin in Neuseeland, als tiermedizinische Praxisassistentin in Singapur und anschliessend sechs Jahre als Tiertrainerin im Zoo Zürich gearbeitet. Während dieser Zeit hat sie sich u.a. bei der European Association of Zoos and Aquaria sowie bei amerikanischen Wildtiertrainern praktisch weitergebildet. Ihren Erfahrungsschatz in der Arbeit mit domestizierten Tieren hat sie im Tierheim des TierRettungsDienstes erweitert. Seit 2015 ist sie als "dieWildtiertrainerin" selbständig arbeitende Tiertrainerin und professionelles Mitglied der  International Association of Animal Behavior Consultants IAABC und der Association of Animal Behavior Management ABMA.


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